Gutes Lernen, so könnte man sagen, ist wie guter Sex: Nicht auf die Athletik kommt es an, auf Tempo und Frequenz, sondern auf die Eindringlichkeit, die individuelle Variation und den nachhaltigen positiven Effekt auf unsere Psyche.
Richard David Precht1
Ich gebe zu, sich als ehemaliger Lehrer und Stellv. Schulleiter, dem der Abschied aus dieser Rolle alles andere als leicht gefallen ist, über das Bildungssystem zu äußern, mag den falschen Eindruck eines stumpfen Nachtretens erwecken. Doch so ist es sicherlich nicht gemeint. Auch wenn ich derzeit leider nicht mehr in der Schule arbeiten kann, so liegt mir das Thema der Förderung und Unterstützung der Persönlichkeiten von Kindern und Jugendlichen weiterhin sehr am Herzen.
Nun so etwas zu schreiben wie dass ich in den 25 Jahren, die ich ihm treu und engagiert gedient habe, schon immer das Gefühl gehabt habe, dass etwas an unserem Schulsystem nicht stimme, wäre schlichtweg gelogen. Lange Zeit bin ich sehr gerne und mit großem Engagement zur Schule gegangen und habe viel Freude und Befriedigung aus den Dingen ziehen können, die ich dort erlebt und erreicht habe.
Gleichwohl habe ich schon als Referendar erkennen dürfen: Unterricht ist zu (mindestens) 80% Beziehungsarbeit. Wenn es auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht stimmt, wirst du einen Schüler/eine Schülerin nie erreichen, motivieren und begeistern können. Und so habe ich auf diesem langen Weg (besonders als Mathelehrer) sicher auch viele Kinder zurückgelassen, die mit jemand anderem vor sich vielleicht viel mehr Freude am Lernen und Selbstwertgefühl hätten entwickeln können. Sie mögen mir bitte verzeihen.
Ich war außerdem sogar bis zuletzt so naiv, die Tiere in der berühmten Karikatur von Hans Traxler (1975) als im Bezug auf das Lernen völlig unterschiedlich disponierte Menschen zu deuten, nicht aber als symbolisches Abbild einer ganz normalen Schulklasse …
Kritik am Bildungssystem ist nicht neu. Sie hat aber auch keine dauerhafte Tradition, sondern korreliert vielmehr mit einem gesellschaftlichen Wandel, in dem sich mitunter das gesellschaftliche Ansehen und der Respekt vor Institutionen und ihren Vertreter(inne)n stark gewandelt hat. Noch in den 1950er Jahren wurden Pfarrer, Polizisten und Lehrer (und sogar Politiker) samt ihrer weiblichen Pendants als uneingeschränkte Autoritätspersonen anerkannt, ihnen wurde mit großer Achtung und teils unterwürfiger Fügsamkeit begegnet. Diese war jedoch meist keineswegs intrinsisch, sondern vielmehr „qua Amt“ motiviert: Der Pfarrer hatte den Trumpf namens Hölle im Ärmel, die Polizisten Gericht und Gefängnis, und die Lehrer machten sich die Benotung zu eigen, die als disziplinierendes Anreizsystem bis heute wirksam ist.
Woran krankt unser Bildungssystem? Als ich 1969 geboren wurde, schlossen etwa 10 % aller Schüler/innen ihre Schullaufbahn mit dem Abitur oder der Fachhochschulreife ab. Als ich 1988 selbst Abitur machte, gehörte ich zu 29,7 % meiner Altersguppe. Als ich zehn Jahre später Studienrat wurde waren es schon 37,2 %, und als ich 2016 zum Stellvertretenden Schulleiter wurde sage und schreibe 52,1 %.2 Woran liegt es, dass dieser nahezu inflationären Vergabe des höchsten Schulabschlusses allenthalben (insbesondere auch unter Lehrer(inne)n) vehemente Klagen über das sinkende Leistungsniveau, insbesondere die nachlassenden sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten der Schüler/innen gegenüberstehen, und überdies der jungen Generation kaum noch individueller Charakter, Persönlichkeit, Motivation und Profil zugeschrieben werden, geschweige denn die Beherrschung sogenannter „soft-skills“?
Aus der Vielzahl kritischer Aspekte möchte ich zwei herausgreifen, weil sie mich in besonderer Weise angesprochen haben und ich sie substanziell und in ihrer Tragweite sehr bedeutsam finde.
Der erste Aspekt wird im deutschsprachigen Raum vor allem von Richard David Precht vertreten, der deutlich macht, dass das Bildungssystem in seiner gegebenen Form sicher einmal – gemessen an den ökonomischen Bedarfen der Industriegesellschaft – hochgradig effizient war, indem es Menschen dazu erzog, sachlich und charakterlich gut zu funktionieren, um somit wirtschaftlich also maximal produktiv zu sein – und gleichzeitig hochgradig materialistisch verführbar. Der Taylorismus lässt grüßen – inzwischen allerdings unter völlig anderen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen! Die Zeiten, in denen der sekundäre Sektor einen Großteil der wirtschaftlichen Kraft band, sind längst vorbei. Die ökonomische Kraft unserer Gesellschaft bündelt sich längst (nämlich seit den 1980er Jahren) vor allem in den Bereichen Dienstleistungen und Informationstechnologien. Anstelle eines zuverlässig-schematischen Funktionierens sind hier Mündigkeit, Kreativität und Teamfähigkeit gefragt. Tugenden, auf die unser Schulsystem in der gegebenen Form seiner Ansicht nach nicht nur nicht hinarbeitet, sondern mitunter sogar kontraproduktiv wirkt.
Den zweiten Aspekt umreißt Gerald Hüther mit den Worten, in der Schule werden Kinder zum Objekt gemacht. Damit meint er, dass anstatt ihre Individualität und ihr naturgegebenes Lerninteresse wahrzunehmen, darauf einzugehen und zu fördern alle Schüler und Schülerinnen pauschal über einen Kamm geschoren werden, also insbesondere in Jahrgangsgruppen zusammengefasst werden, in denen alle Kinder bzw. Jugendlichen zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche leisten können müssen, um im System zu bestehen. Als Gegenpol zu diesem Zustand führt er den Begriff Würde an. Er beurteilt also – mir ist dieser Klartext wichtig – den systemimmanent unpersönlichen Umgang mit Kindern in Schulen als unwürdig.
Gemeinsam vertreten Precht und Hüther den Ansatz eines Lernens mit dem Ziel der individuellen Potenzialentwicklung eines jeden Menschen. In der Ausformung dieses Ansatzes wird deutlich, dass seine systemimmanente Realisierung kaum denkbar ist und somit die Widerstände gegen eine notwendige radikale Reform des Bildungssystems groß sein werden, gibt es doch einfach zu viele Menschen in den Schulen, Behörden und Regierungen, deren berufliche Existenz in der jetzigen Form genau dadurch gesichert wird, dass das System genauso bleibt wie es ist – was übrigens auch, wie Precht richtig anmerkt, für die Vielzahl der Nachhilfelehrer gilt. Ähnlich wie beim (ebenfalls reformüberfälligen) Steuersystem hat sich ein eisernes Dreieck gebildet, das das Loslassen schwer macht und somit Veränderungen unterminiert.
Widerstände sind jedoch auch von anderer Seite zu erwarten. Wie würden beispielsweise Eltern reagieren, wenn es plötzlich keine jahrgangsbezogenen Klassen und Lehrpläne (und somit Maßstäbe) und keine Noten mehr gäbe? Das Prinzip von messbarer normierter Leistung zieht sich nicht nur als starrer roter Faden durch das Bildungssystem, sondern auch durch die Köpfe der Menschen, deren Ego wie wir wissen3 auf Vergleich und Bewertung aus ist. Auch wenn der Fisch vom Kopf her stinkt, so liegt hier (also in der Bewusstseinsveränderung der Menschen) doch ein sehr wesentlicher und unabdingbarer Ansatzpunkt einer neuen Lern- und Bildungskultur.
Ich möchte Dir, wenn Du Dich in diese Thematik vertiefen möchtest, die Bücher von Gerald Hüther und Richard David Precht ans Herz legen:
Gerald Hüther und Uli Hauser: Jedes Kind ist hoch begabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen, München 2012
Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern, München 2014
Abbildungsnachweis
- Beitragsbild: Ausschnitt aus dem Buchcover Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern, München 2014, Goldmann Verlag
- Klettern Sie auf diesen Baum: Hans Traxler in: betrifft:erziehung, Juli 1975
- Richard David Precht: © Amanda Berens / Verlagsgruppe Random House, https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_David_Precht#/media/Datei:Richard_David_Precht_2015-02-20.jpg, CC BY-SA 3.0 de
- Gerald Hüther: Foto: Franziska Hüther, https://de.wikipedia.org/wiki/Gerald_Hüther#/media/Datei:Dr._Gerald_Hüther.jpg, CC BY-SA 4.0
- Schule einst und heute: Schulzimmer im Heimatmuseum Seelze von Sabine Nuffer (pixabay, lizenzfrei), bearbeitet von Marco Jakob (Lizenz Creative Commons Namensnennung)
- Buchcover: Knaus Verlag / Goldmann Verlag
- Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern, München (Goldmann) 2013, S. 282f. [↩]
- vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Abiturientenquote und https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.5.85.html [↩]
- siehe meinen Beitrag Das Ego – der Feind in dir [↩]