“Das Ego, das bist nicht Du”

Ego says, “Once everything falls into place, I’ll feel peace.”
Spirit says, “Find your peace, and then everything will fall into place.”

Marianne Williamson1

Erscheint Dir die Überschrift überraschend? “Das Ego bin doch, ganz gemäß der wörtlichen Übersetzung, ich selbst!?”, magst Du vielleicht denken? Aber genau darin liegt ein großer Irrtum. Das Ego bist nicht Du. Das Ego ist lediglich ein Programm, das in Dir abläuft, ein Ergebnis jahrzehntelanger Konditionierung, eine irreführende Coproduktion Deines Verstandes mit dem Außen.

Nicht Dein Selbst ist das Ego, sondern das, womit Du Dich identifizierst, angefangen bei deinem Namen. Eckhart Tolle schreibt dazu: „Meistens ist es das Ego, das aus dir spricht, wenn du ‚ich‘ sagst (…). Es setzt sich aus Gedanken und Emotionen zusammen, aus einem Bündel von Erinnerungen, mit denen du dich als ‚ich und meine Geschichte‘ identifizierst, aus Rollen, die du gewohnheitsmäßig spielst, ohne es zu wissen, und aus kollektiven Identifikationen wie Nationalität, Religion, Rasse, Gesellschaftsschicht oder politische Parteien. Es besteht darüber hinaus aus persönlichen Identifikationen, nicht nur mit Besitztümern, sondern auch mit Meinungen, äußerer Erscheinung sowie lang gehegten Abneigungen und Vorstellungen von dir selbst als anderen über- oder unterlegen, als Erfolgsmensch oder Versager.“2

Osho schreibt dazu: “Das Ego ist das genaue Gegenteil von deinem wahren Selbst. Das Ego, das bist nicht du. Das Ego ist eine Täuschung, die dir von der Gesellschaft gegeben wurde, damit du ein Spielzeug hast, das dich beschäftigt und dich nie nach der Wahrheit fragen lässt.3

Das Ego vermittelt uns eine Wahrnehmung unserer selbst, mit der wir uns zwar wie selbstverständlich identifizieren, die allerdings mit unserem wirklichen Kern, unserer Essenz, unserer Seele, nur sehr wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Das Ego hindert uns daran, uns selbst zu erkennen, wir selbst zu sein, unsere ureigene Wahrheit zu leben. Wir definieren uns selbst nicht über das, was wir sind, sondern darüber, was wir über uns denken.

Warum ist das Ego hinderlich für unsere Entwicklung?

In einem Satz gesagt, weil es uns daran hindert so zu sein, wie wir wirklich sind. Mit allen erdenklichen nachteiligen Konsequenzen. Das Ego besteht in seinem Kern aus der Identifikation mit Form und aus Trennung. Es stiftet uns an, zu beurteilen und vergleichen, und vermittelt uns in der Konsequenz stets ein Gefühl des Mangels. Es macht uns glauben wir genügten nicht, leitet uns in die Irre, indem es uns im Außen, z. B. in Form materiellen Besitzes oder beruflicher Karriere, nach Anerkennung und Glück suchen lässt. Das Ego veranlasst uns, Realität in einer Weise zu interpretieren, die Leid erzeugt. Das Rennen, in das es uns schickt, ist nicht zu gewinnen.

Das Ego raubt uns unsere Leichtigkeit, indem es uns alles, was uns begegnet, kritisch hinterfragen und problematisieren lässt, in ewigen, sich ständig wiederholenden Gedankenschleifen und Emotionen, ohne auch nur einen Schritt voran zu kommen. Wir machen uns die Meinungen, Ansichten und Konditionierungen der Gesellschaft unbewusst zu eigen, und verlieren uns selbst durch die starke Orientierung im Außen mehr und mehr aus dem Blick. So entwickeln sich Selbstkonzepte und Muster, unsere inneren Programme zur Deutung unserer selbst und des Lebens, fernab von jeglicher Verbindung zu uns selbst. Über die Lebensjahrzehnte prägen und verfestigen sich Glaubenssätze, die unsere Wahrnehmung wie Filter trüben und manipulieren und auf diese Weise maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie wir Ereignisse wahrnehmen und auf sie reagieren. Diese Glaubenssätze, nicht jedoch der ureigene Ruf unserer Seele, werden zu unserem inneren Kompass.

Woran kannst Du ein aktives Ego erkennen? Typische Verhaltensmuster sind sich beklagen und ärgern, Grimm und Groll, Missgunst und Neid, Rechthaberei sowie Unfrieden stiften. Ein Bestandteil vieler Ego-Muster ist zudem die Einnahme einer Opferrolle.4 Man betrachtet sich nicht (mehr) als Schöpfer seiner selbst und seines Lebens, sondern als hilfloses Opfer der Umstände, gibt die Eigenverantwortung auf, projiziert die Ursachen der eigenen Unzufriedenheit und des eigenen Unglücks ins Außen und begibt sich so in eine unheilvolle Abhängigkeit à la „Schuld sind immer die anderen“.

Das Ego und der Schmerzkörper

Eine wesentliche Bedeutung hat dabei der sogenannte Schmerzkörper. Tolle versteht darunter ein Energiefeld, das durch das Festhalten an alten negativen Gedanken und Emotionen entsteht.5 Tiere sind in der Lage, die sich aus Konfliktsituationen ergebenden negativen Energien schnell abzuschütteln. Enten schlagen nach einer Auseinandersetzung ein paarmal kräftig mit den Flügeln6, und auch unser Kater schnurrt mir nur ein paar Minuten nach einer kleinen Rauferei wieder um die Beine. Wir Menschen sind anders, negative Erfahrungen nisten sich in unser System ein: „Die Schmerzreste, die jede starke negative Emotion zurücklässt, mit der man sich nicht auseinandergesetzt und die man nicht akzeptiert und dann fahren lassen hat, verbinden sich miteinander zu einem Energiefeld, das in den Körperzellen lebt.“7

Negative Gedanken und Emotionen nähren den Schmerzkörper, er provoziert um seiner Existenz und Macht willen in uns eine Sucht nach emotionaler Negativität und Unglücklichsein.8 Phasen eines aktiven Schmerzkörpers sind entsprechend von Abgrenzung, Missgunst, Wut, Hass, Neid, Aggression und Lebensunlust geprägt.

Der Schmerzkörper korrespondiert mit den sogenannten Schatten unseres Wesens. C. G. Jung hat diese Schatten als das gesamte Unbewusste in uns definiert.9 Gemeint sind damit alle zu uns gehörenden Eigenschaften, Gedanken und Gefühle, die wir verdrängen, nicht wahrhaben und l(i)eben, weil wir sie nicht wertschätzen, für gesellschaftlich unerwünscht halten oder gar verurteilen. Die Heilung liegt nicht etwa darin, die Schatten zu vernichten, denn sie gehören dem Kosmischen Gesetz der Polarität gemäß ebenso zu uns wie auch all unsere gel(i)ebten Anteile. Es geht vielmehr um das urteilsfreie Wahrnehmen, Anerkennen und Integrieren der Schatten als Teil unserer selbst. Nur so wird ihre negative energetische Wirkung im Lichte des Bewusstseins aufgelöst und wir gelangen in die unsere Einheit und Ganzheit.

Das Ziel: Die Desidentifikation mit dem Ego

Eckhart Tolle erinnert an die wörtliche Übersetzung des Wortes Sünde, nämlich „das Ziel der menschlichen Existenz verfehlen“.10 Aus seiner Sicht ist folglich Sünde mit Unbewusstheit gleichzusetzen. Sein Weg heraus aus der „Knechtschaft der Sünde“11 ist folgerichtig der Weg in das Bewusstsein, der in der Befreiung vom „mentalen Lärm“, also dem ewigen zwanghaften Denken, von der krampfhaften Beschäftigung mit Vergangenheit und Zukunft, vom Opferdasein, von der Identifikation mit materieller Befriedigung, von einem eigens erdachten Selbstbild, das von den Geschichten im Kopf erzeugt wird, liegt. Er fordert das „frei werden von einem lächerlich eingeschränkten Selbstwertgefühl“, das vor allem durch äußere Einflüsse und die daraus resultierenden problematischen Gedanken über uns selbst und das Leben über Jahrzehnte hinweg in unserem Kopf geschaffen wird, mit unserem wahren Sein aber nichts zu tun hat.12

Dieses krankhaft verzerrte Selbstwertgefühl speist sich oftmals daraus, besser zu sein als andere oder, falls dies nicht gelingt, sich zum Opfer der Umstände zu machen und damit die Verantwortung für sich selbst aufzugeben. Es strebt nach Abgrenzung, Vergleich und Verurteilung. Das Ego stiftet also nichts als Unfrieden in uns und um uns herum. Es wird uns niemals glücklich, sondern einsam und krank machen.

Der Kontrapunkt zum Ego ist unser Herz: Das Herz gibt und verbindet, das Ego nimmt, erwartet, buhlt, verlangt, vereinnahmt und trennt. Praktischer gesagt: Wenn wir Lieben, spielt das Ego keine Rolle.

Diese für uns alle leicht nachzuempfindende Tatsache ist bereits Teil der Bewusstwerdung, die Eckart Tolle meint. Er stellt uns vor die Alternativen Bewusstseinssprung oder Selbstzerstörung. Den Schlüssel zur Entmachtung des Ego nennt er Präsenz, Gegenwärtigkeit. Präsenz bedeutet bei sich zu sein, im Jetzt zu leben und die Situation urteilsfrei wahrzunehmen, die Verbindung mit sich selbst wieder zu knüpfen und zu stärken und sich von den starren Normen und Deutungsmustern des Ego zu befreien. Es geht um das Denken ohne Denkzwang, um die Antwort auf die Frage „Wer bist du jenseits von Name und Form?“12 Es ist der Weg aus Opferdasein und Fremdbestimmtheit in die Eigenverantwortung und Gestaltung, aus der Dunkelheit in die Spiritualität, einen neuen Bewusstseinszustand.


Abbildungsnachweis

  • Beitragsbild: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Curb_Your_Ego.jpg, Lizenz CC 4.0
  • Buchtitel Ryan Holiday © Profile Books
  • Erpel im Kampf: Thomas G. auf Pixabay (lizenfrei)
  1. auf Twitter, 10.08.2013 []
  2. Eckhart Tolle: Eine neue Erde. Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung, München 32005, S. 76 []
  3. Osho: Das Buch vom EGO. Von der Illusion zur Wirklichkeit, Berlin 62012, S. 17 []
  4. vgl. Tolle (2005), S. 77ff., S. 106 und S. 131 []
  5. vgl. Tolle (2005), S. 163 []
  6. vgl. Tolle (2005), S. 160 []
  7. vgl. Tolle (2005), S. 165 []
  8. vgl. Tolle (2005), S. 168 []
  9. vgl. Rüdiger Dahlke: Das Schatten-Prinzip. Die Aussöhnung mit unserer verborgenen Seite, München 82010, S. 13 []
  10. Eckhart Tolle: Torwege zum Jetzt. Die drei Techniken zu höherem Bewusstsein, Hörbuch, München 2010, vgl. dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Sünde []
  11. Tolle (2010) bezieht sich hiermit auf das Bibelzitat „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ (Joh. 8, 34) []
  12. vgl. Tolle (2010) [][]