Was bedeutet eigentlich Spiritualität?

Die Tatsache, dass es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewissheit.

Franz Kafka1

Dir wird aufgefallen sein, dass meine Website unter dem Titel komm zu DIR den Untertitel „spirituelle Begleitung“ trägt. Ich möchte Dich begleiten, indem ich Dir auf diesen Seiten Impulse anbiete. Auf Augenhöhe, einfühlsam, liebevoll und absichtslos. Der Begriff Spiritualität bzw. spirituell verdient hingegen eine genauere Betrachtung. Er ist in vieler Munde, und dennoch gibt es keine einheitliche Definition – was weniger an der inflationären diffusen Verwendung des Begriffs liegt, sondern tatsächlich an der Schwierigkeit, den Begriff inhaltlich sinnstiftend und umfassend zu greifen. Dennoch verbindet jeder Mensch eine bestimmte Bedeutung, ein Gefühl oder gar ein Lebenskonzept damit. Hier findest Du meinen Versuch der Annäherung.

Der etymologische Zugang

Allgemein wird Spiritualität mit geistig oder geistlich übersetzt (wie auch sonst, das lateinische Wort spiritus bedeutet nun mal Geist), was bereits ersten Wegen und Irrwegen des Verständnisses Raum öffnet, so hat zum Beispiel nicht jeder so genannte „Geistliche“ mit Geistlichkeit im hier gemeinten Sinn zu tun.

Wichtig ist mir die Abgrenzung vom Begriff Esoterik, weil er im öffentlichen Mainstream-Sprachgebrauch mittlerweile leider (missverstehend oder gar missbräuchlich) im Sinne von „versponnen“ und „randständig“ bis hin zu „verwirrt“ negativ konnotiert ist.2 Aber immerhin, über das Bücherregal in der Bahnhofsbuchhandlung in Nürnberg habe ich arg geschmunzelt.

Ziehen wir also zum besseren Verständnis das erste kosmische Gesetz heran. Es besagt: Alles ist Geist. Dieser Geist ist vor allem durch seine Feinstofflichkeit und Universalität gekennzeichnet. Er ist immer und überall, unabhängig von Zeit und Raum. Im Großen wie im Kleinen. Unter Spiritualität, Geistlichkeit, verstehe ich daher die Verbindung mit diesem Geist, anders gesagt die Anbindung an die geistige Welt, das Universum.

Vielleicht klingt das noch ein wenig abstrakt. Deswegen möchte ich eine Konkretisierung vornehmen, indem ich die Seele, unser höheres göttliches Selbst, als Ankerpunkt bzw. Medium dieser Anbindung vorschlage. Denn die Seele ist per se eine Brücke zwischen den Welten. Sie ist in uns und gleichzeitig überall. Spiritualität in diesem Sinne würde also bedeuten, in guter, bewusster Verbindung mit der eigenen Seele zu sein. Sie zu spüren und ihre Signale zu hören. Am allereinfachsten könnte man also in diesem Sinne Spiritualität übersetzen mit zu sich kommen, bei sich sein, mit seiner Seele verbunden sein.

In dieser Sichtweise ist Bewusstsein übrigens ein wesentlicher Aspekt von Spiritualität. Nicht nur im Sinne des Verstehens der universellen Wahrheiten, sondern auch als Überwindung des Egos, das sich diesen immer wieder gekonnt und unseren Verstand vereinnahmend in den Weg stellt. Das Ego arbeitet sich an den Wellen ab, aber es geht um den ganzen Ozean. Somit geht es um eine ganzheitliche Sicht, d. h. zu erkennen, dass alles mit allem verbunden ist, und auch urteilsfrei die Schattenpole anzunehmen, weil es ohne sie die Lichtpole nicht gäbe. Spiritualität ist in diesem Sinne als eine andere Sicht auf die Dinge, eine andere Form der Wahrnehmung des Lebens zu verstehen. Und als eine Grundhaltung, die vor allem in der ruhigen, distanzierten Sicht der Dinge besteht, die nicht von Ego und Verstand beherrscht ist.

„Ich bin offene Weite“

„Ich bin offene Weite“ ist in diesem Sinne für Dieter Lange eine angemessene Charakterisierung von Spiritualität, die gleichzeitig einmal mehr die Schwierigkeit einer Definition illustriert. Er sagt: „Im Grunde ist es vollkommen einfach: Der Meister sagt schlichtweg, ’sei still, egal welche Fragen du hast, sei still‘, und wenn du nach Monaten wieder zu ihm kommst hast du keine Fragen mehr, weil das sind (bzw. waren) ja die Gedanken, das Ego.“ Und er erzählt eine schöne Geschichte, die diese Erkenntnis illustriert: In einem Dorf am Ende der Welt steht eine Mauer, dahinter liegt die Welt der Spiritualität. Eines Tages wagte es ein junger Mann, heraufzuklettern und hinüberzuschauen. Er sah, lächelte und sprang. Irgendwann passierte das mit einem Zweiten; er kletterte hoch, sah die Welt der Spiritualität und sprang. Die Dorfbewohner wurden neugierig und wollten wissen, warum die Menschen gelächelt hatten. So schmiedeten sie den Plan, wenn noch einmal jemand auf die Mauer klettern würde, ihm ein Seil ans Bein zu binden und ihn zurückzuziehen, falls er springen wollen würde. Das taten sie mit dem nächsten. Das Ergebnis war, er hat nie mehr gesprochen.3

Die Große Spirituelle Ebene (Great Spiritual Plane) des Kybalion

Auch das Kybalion, in dem 1908 die Kosmischen Gesetze (auch Hermetische Gesetze) von „drei Eingeweihten“ erstmals zusammenhängend formuliert wurden, zeugt von der Schwierigkeit, Spiritualität begrifflich zu fassen. Im Zusammenhang mit der Erläuterung der „Great Spiritual Plane“, der großen spirituellen Ebene des Seins, heißt es einleitend: „… what shall we say? How can we explain these higher states of Being, Life and Mind, to minds as yet unable to grasp and understand the higher sub-divisions of the Plane of Human Mind? The task is impossible. We can speak only in the most general terms. How may Light be described to a man born blind – how sugar, to a man who has never tasted anything sweet – how harmony, to one born deaf?“4

Hieran wird insbesondere deutlich: Spiritualität kannst Du nicht erlernen oder studieren, sondern ausschließlich erfahren. Es geht dabei im Wesentlichen darum, aus den Mustern unseres Verstandes und des Egos (insbesondere aus der Orientierung im Außen) zu erwachen, bewusster zu werden, sich daran zu erinnern, wer wir wirklich sind und sich den höheren Energien zu öffnen. Etwas, das oftmals in (und hier greift der wahre Wortsinn) herausfordernden Lebenssituationen geschieht. Vielleicht liest Du gerade diesen Text, weil Du bereits erfahren hast: Ohne Schmerz kein Wachstum. Mehr zu diesem Aspekt schreibe ich in Krisen – Motor unserer Entwicklung.

Spiritualität ist Freude!

Ein Aspekt, der mir abschließend besonders wichtig erscheint, ist: Spiritualität, Freude und Leichtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Es geht bei Spiritualität nicht um die rationale Verankerung und Analyse, erst Recht nicht um Dogmatismus, sondern um das reine Leben. Um unser ureigenstes Menschsein im Lichte der Selbsterkenntnis. Deshalb bietet Spiritualität einen Raum, der völlig frei ist von den Selbstbegrenzungen des Ego und der damit verbundenen Schwere. Nur Leichtigkeit und Freude, nur Leben, pures Sein.

Ich zucke übrigens immer zusammen, wenn ich jemanden sagen höre, „ich bin spirituell“. Denn jeder von uns ist es, ohne Ausnahme, weil wir alle über unsere Seele, unser höheres Selbst, an das Universum, das All-Eins, angebunden sind. Wir alle sind nichts als Geist – oder, um es metaphorisch auszudrücken, „Staub und Phantasie„. Unterschiede gibt es allerdings dahingehend, inwiefern Menschen diese Verbindung spüren und nutzen, indem sie auf die Weisheit ihrer Herzen hören.

Namasté!
Thomas


Abbildungsnachweis

  • Beitragsbild: PxHere (CC0 Public domain)
  • Bücherregal Esoterik © Thomas Hönemann, aufgenommen in der Buchhandlung im Hauptbahnhof Nürnberg, 2018
Fußnoten
  1. in: ders., Beim Bau der Chinesischen Mauer. Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, Gustav Kiepenheuer, 1931, Seite 237, Fundort: https://www.literatpro.de/spruch/191217/die-tatsache-dass-es-nichts-anderes-gibt-als-eine-geistige-welt []
  2. Esoterik (von altgriechisch ἐσωτερικός esōterikós ‚innerlich‘, dem inneren Bereich zugehörig, von innen her [verstehbar]) ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist, im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen. Andere traditionelle Wortbedeutungen beziehen sich auf einen inneren, spirituellen Erkenntnisweg, etwa synonym mit Mystik, oder auf ein „höheres“, „absolutes“ Wissen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Esoterik, ein im übrigen sehr lesenswerter Artikel!) Auch die hermetischen Schriften werden zur Esoterik gezählt, Lambeck identifiziert (unter Berufung auf Thorwald Dethlefsen) sogar die hermetische Philosophie mit der Esoterik. (vgl. ebd.) []
  3. vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oh4CwqULEGg []
  4. https://en.wikisource.org/wiki/The_Kybalion/Chapter_8, Übersetzt: … was sollen wir sagen? Wie können wir diese höheren Seins-, Lebens- und Geisteszustände einem Geist erklären, der noch nicht in der Lage ist, die höheren Unterabteilungen der Ebene des menschlichen Geistes zu erfassen und zu verstehen? Die Aufgabe ist unmöglich. Wir können nur ganz allgemein sprechen. Wie kann Licht einem Blindgeborenen beschrieben werden – wie Zucker einem Mann, der noch nie etwas Süßes geschmeckt hat – wie Harmonie einem Taubgeborenen? []