„Dem Schamanismus gebührt in der Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen die gleiche Bedeutung wie der westlichen Medizin.“ So wurde es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1980 festgelegt. Das mutet vielleicht etwas seltsam an, tatsächlich jedoch ist der Schamanismus das am frühesten entstandene Heilungssystem der Menschheit und wird heute vielerorts noch täglich praktiziert.1
In nahezu allen Kulturen der Welt gibt es schamanische Traditionen, jeder Stamm hatte einen Schamanen2, der die Heilmittel, die ihm die Natur zur Verfügung stellte, sowie energetische Heilverfahren nutzte. Heilung war also in dieser Tradition ein sehr naturverbundener und feinstofflicher Prozess, der (bewusst oder unbewusst) auf der Aktivierung der Selbstheilungskräfte der Kranken aufbaute.
„Der Ausdruck Schamane stammt ursprünglich von den tungusischen Völkern, šaman bedeutet in der mandschu-tungusischen Sprache „jemand, der weiß“ und bezeichnet einen besonderen Wissensträger.“3 „Im weiteren, häufig verwendeten Sinne dient die Bezeichnung Schamane als Sammelbegriff für ganz unterschiedliche spirituelle, religiöse, heilerische oder rituelle Spezialisten, die bei verschiedensten Ethnien weltweit als Vermittler zur Geisterwelt fungieren und denen entsprechende magische Fähigkeiten zugesprochen werden. In den meisten Weltgegenden setzen sie dies im Sinne kultischer und/oder medizinischer Handlungen zum Wohl der Gemeinschaft ein. Sie üben dazu verschiedene mentale Praktiken und Rituale (…) aus, mit denen die normale Sinneswahrnehmung erweitert werden soll, um (…) Kontakt zu den „Mächten des transzendenten Jenseits“ aufnehmen zu können.“3
Besonders in indigenen oder traditionellen lokalen Gemeinschaften spielen Schamanen heute noch eine wichtige Rolle.5 So lassen sich in allen Teilen der Welt Schamanen finden, beispielsweise am Baikalsee und in der kleinen Republik Tuwa in Sibirien, in der afrikanischen Kalahari, bei den Inkas in den Hochanden, in Kanada, im nordindischen Ladakh oder auch in Grönland, dem Heimatland des wohl weltweit bekanntesten Schamanen unserer Zeit: Angaangaq.6
Angaangaq braucht keine akademischen Klimmzüge, um das Wesen eines Schamanen zu beschreiben: „Einen Schamanen erkennst du nicht an seiner Trommel, an seinen Kleidern, an seinen Zeremonien. Einen Schamanen erkennst du an seiner Präsenz, an seiner Achtsamkeit, an seiner Liebe. Nicht jeder, der (in deiner Vorstellung) wie ein Schamane aussieht, ist ein Schamane. Und es gibt Schamanen, die nicht wie Schamanen aussehen, aber doch Schamanen sind. Der Dalei Lama ist ein Schamane, Franz von Assisi war ein Schamane: große Lehrer, die sicher der Verantwortung gestellt haben, Menschen den Weg zu weisen.“7
Angaangaq lehrt: „Life is a ceremony in itsself, worth to be celebrated with a ceremony every day.“ Er, der aus dem einzigen besiedelten Land der Welt kommt in dem noch kein Krieg herrschte, setzt auf Liebe, Respekt und Anerkennung als grundlegende Prinzipien des menschlichen Miteinanders und Garanten des Friedens. Aber „we put each other down instead of lifting up each others spirits“. Als Fundament des friedlichen Zusammenlebens sieht er die Selbstliebe: „You are the most important person in your entire world. That’s self-love. How can you ever love somebody if you don’t love yourself?“8
Der Indologe Michael Witzel geht „davon aus, dass es angesichts der Ähnlichkeit australischer, andamanischer, indischer und afrikanischer Initiationsrituale mit den entsprechenden sibirischen Ritualen, die die Phänomene der aufsteigenden Hitze, Trancen (Dreamers), Ekstase und Kollaps, symbolischen Tod und Wiedergeburt, Verwendung psychoaktiver Drogen, Tabubewahrung, Zauberei und Heilung umfassen, einen älteren Prototyp des Schamanismus gegeben habe. Dieser habe sich mit der Out-of-Africa-Wanderung des modernen Menschen entlang der Küsten des Indischen Ozeans und früh auch nach Eurasien und Nordamerika verbreitet.“9 1980 erschien Michael Harners „praktisches Grundlagenwerk“ Der Weg des Schamanen10, in dem er sein Konzept des Core Schamanismus als weltweit universelle Urreligion vorstellt, wobei er von einem universellen gemeinsamen Fundament, einem Kern (core) aller schamanischen Traditionen weltweit ausgeht. Er geht dabei insbesondere auf die schamanische Reise, die Begegnung mit und Unterstützung durch Krafttiere, den Umgang mit Kraft sowie die Extraktion schädlicher Eindringlinge ein.
Auch in Zentraleuropa gab es in früheren Zeiten eine ausgeprägte schamanische Heiltradition, die aber im Mittelalter von der Inquisition als „Hexenmedzin“ geradezu verteufelt und somit vernichtet wurde.11 Auch in Deutschland werden schamanische Traditionen inzwischen immer stärker wieder aufgegriffen, studiert, angewendet und gelehrt. Jennie Appel und Hans-Martin Beck, die ich persönlich kennenlernen durfte, oder auch der Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Dr. Wolf-Dieter Storl sind nur einige Beispiele unter immer mehr Menschen, die sich erlauben, dem Ruf der Urkräfte zu lauschen und andere Menschen für die schamanischen Weltsicht und Heilkunst zu begeistern.
Es freut mich ganz besonders, dass gerade Europa, wo schamanische Methoden vor Jahrhunderten gnadenlos verfolgt und zerstört wurden, heute zu den Vorreitern gehört, wenn es darum geht, zu schamanischem Wissen und zu schamanischen Heilmethoden zurückzukehren. Möge diese spirituelle Renaissance weltweit immer mehr Menschen begeistern. Möge sich dadurch die Einstellung der Menschen zu ihrem Heimatplaneten, ihren Mitmenschen und allen Wesen, mit denen sie diesen Garten Eden teilen, bald und von Grund auf ändern.
Michael Harner im Vorwort zur deutschen Ausgabe (2007) seines o. g. Buches Der Weg des Schamanen
Auch die Wissenschaft befasst sich intensiv mit der Heilkraft schamanischer Rituale: An der Universität Gießen erforschten Neurologen und Neurophysiologen ab 1997 die Wirkungsweise des Schamanismus. Das Gießener Forscherteam und den Psychologen Prof. em. Dr. Dieter Vaitl interessierte sich vor allem für die Frage, wie Trance entsteht und was sie bewirken kann.12
Meine erste Begegnung mit schamanischen Techniken durfte ich Anfang 2014 mit Jennie Appel erleben, zu einer Zeit, in der ich durch eine tief gehende seelische Begegnung sehr empfänglich und dankbar für jede Form geistiger Unterstützung war. Ich war von dieser Erfahrung so berührt, begeistert und überzeugt, dass ich am Ball blieb und mich schließlich wenig später sogar von Jennie zum Schamanischen Berater ausbilden ließ. Die Erfahrung, selbst durch Anwendung schamanischer Techniken (wie z. B. der Heilreise oder der Extraktion) andere Menschen ganz offensichtlich unterstützen konnte, war für mich wegweisend. Und so darf ich mich als Teil einer Bewegung sehen, die einen großen qualitativen Fortschritt ermöglicht durch die einfache Rückbesinnung auf das, was Generationen von weisen Menschen vor langer Zeit erschufen. Dafür, diesen Weg gehen zu dürfen, bin ich sehr dankbar.
Namsté!
Thomas
Filmtipp: Eine größere Welt aus dem Jahr 2019 erzählt von einer jungen Frau, die als Reporterin über Schamanen in der Mongolei berichten soll und von deren Bräuchen und Techniken so sehr ergriffen wird, dass sie sich schließlich selbst zur Schamanin ausbilden lässt. „Der Film erzählt die wahre Geschichte von Corine Sombrun (* 1961), die am Ende des Films auch auf Fotos von ihrem Aufenthalt in der Mongolei zu sehen ist und die seit ihrer Ausbildung zur Schamanin Neurologen und Gehirnforschern dabei hilft, die neurologischen Vorgänge im Gehirn während eines Trance-Zustands zu erforschen und die gewonnenen Erkenntnisse für therapeutische Behandlungen zu nutzen.“13
Abbildungsnachweis
- Beitragsbild: schamanische Totem-Reihe, Bild von Simon Berger auf Pixabay (lizenzfrei)
- Angaangaq Angakkorsuaq © icewisdom.com, Foto: sven-nieder.de
- mit Angaangaq © Thomas Hönemann
- Plakat Eine größere Welt © mfa Filmverlag
- Christiane Schönemann: Seelenrückholung. Ein schamanischer Weg zur inneren Heilung, in: Happinez Heft 4/2021 vom 8.4.2021, S. 107-114, hier: S. 112 [↩]
- aus Gründen Lesbarkeit verzichte ich auch hier auf das Gendern, gleichwohl möchte ich darauf hinweisen, dass es auch sehr viele Schmaninnen gibt. [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Schamane [↩][↩]
- zit. n. https://icewisdom.com/de/angaangaq/ [↩]
- vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schamanismus [↩]
- Angaangaq Angakkorsuaq ist Schamane, Ältester und traditioneller Heiler aus Kalaallit Nunaat, Grönland. Sein Name bedeutet „der aussieht wie sein Onkel“, daher ist Angaangaq in den USA und seiner Wahlheimat Kanada auch als „Unkle“ sehr bekannt. Der ihm 2009 verliehene Beiname „Angakkorsuaq“ ist ein Ehrentitel und bedeutet „Großer Schamane“. Er hat in 77 Ländern der Welt gewirkt, stets auf Einladung, und ist dabei bekannten Persönlichkeiten wie dem Dalei Lama, Nelson Mandela, Gordon Summer (Sting) und dem Papst begegnet. [↩]
- Angaangaq: Schmelz das Eis in euren Herzen! Aufruf zu einem geistigen Klimawandel. Hrsg. von Christoph Quarch, München (Kösel) 52010, S. 27 [↩]
- Zitate aus einem von Angaangaq gehaltenen Seminar über Zeremonien, Parimal Gut Hübenthal, 10./11.6.2023 [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Schamanismus [↩]
- Michael Harner: Der Weg des Schamanen. Das praktische Grundlagenwerk des Schamanismus, München (Heyne, TB-Ausgabe) 2013 [↩]
- vgl. Christian Rätsch, Claudia Müller-Ebeling, und Wolf-Dieter Storl: Hexenmedizin – Die Wiederentdeckung einer verbotenen Heilkunst – schamanische Tradition in Europa, Aarau (AT-Verlag) 122011 [↩]
- vgl. 360° – Die GEO-Reportage: Die Klinik der Schamanen, Buch und Regie: Ute Gebhard, online unter https://www.youtube.com/watch?v=BsUR1lHoDNA [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_größere_Welt [↩]