Der Ausdruck Narzissmus leitet sich vom altgriechischen Namen Narziss (Νάρκισσος) ab, der in der griechischen Mythologie ein schöner Jüngling war, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Die bei weitem wirkungsmächtigste antike Darstellung gibt Ovid in seinen Metamorphosen.1
Der Begriff Narzissmus bezeichnet im allgemeinen die Selbstliebe und Selbstbewunderung eines Menschen, womit deutlich wird, dass ein gesundes Maß an Narzissmus durchaus angemessen und hilfreich für die Entwicklung einer von Selbstbewusstsein und psychischer Ausgeglichenheit geprägten Persönlichkeit ist. Ein krankhaft übersteigerter Narzissmus hingegen, der sich die betroffene Person in völlig unangemessen-übertriebenem Maße als wichtiger und wertvoller als andere Menschen betrachten lässt, kann einen hohen Krankheitswert aufweisen, da er sowohl für den Betroffenen als auch sein soziales Umfeld massive Auswirkungen mit sich bringt, da die Erhöhung der eigenen Person dazu führt, dass andere Menschen, die Opfer, in ihrer Persönlichkeit manipulativ eingeschränkt werden. In diesem Fall spricht man von krankhaftem Narzissmus, die zugehörige Diagnose lautet NPS – narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Merkmale der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS)
Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (kurz NPS) „zeichnet sich durch einen Mangel an Empathie, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und gesteigertes Verlangen nach Anerkennung aus. Typisch ist, dass die betroffenen Personen übermäßig stark damit beschäftigt sind, anderen zu imponieren und um Bewunderung für sich zu werben, aber selbst nur wenig zwischenmenschliches Einfühlungsvermögen besitzen und nur wenig emotionale Wärme an andere Menschen zurückgeben.“2
Gemäß DSM-53 müssen zur Diagnose einer NPS mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein
Plakativer bringt es der auf Narzissmus spezialisierte Wiener Neurowissenschaftler und Psychiater Univ.-Doz. Dr. Dr. Raphael M. Bonelli auf den Punkt: „Ein echter Narzisst idealisiert sich selbst, wertet andere ab und ist sich stets selbst der Nächste. Oder aber: „Schön ist nur er selbst, wahr ist nur das, was er sagt, und gut ist nur, was für ihn gut ist.““4
Nach Annie Reich ist die autonome Regulierung des Selbstwertgefühls Betroffener stark gestört, was daran deutlich wird, dass Selbstüberhöhung und Aggression eingesetzt werden, um das eigens erschaffene Selbstkonzept zu schützen.5 „Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gleichen Emotionen wie Scham, Schuld, Angst, Hilflosigkeit und eine aktive Selbstabwertung durch Größenideen, Perfektionismus, Abwertung anderer Menschen und Ärger, Wut und Aggressivität aus.“6 Sie leiten aus ihrem übersteigerten Selbstbild überdies das Recht ab, anderen Menschen Regeln zu setzen, also bestimmen zu können, wie diese „mit ihnen umzugehen haben und welches Verhalten anderer sie erwarten dürfen. Aufgrund dieser Regeln, die meist gar nicht kommuniziert werden, entstehen ihnen oft Konflikte mit Dritten, weil sich diese solche Regeln nicht ohne Weiteres bieten lassen“7, zumal die Regeln häufig an unersättliche Ansprüche und Erwartungen gekoppelt sind. Menschen mit NPS verhalten sich somit anderen gegenüber hochgradig manipulativ und neigen insbesondere dazu, Personen in ihrem unmittelbaren Umfeld (besonders Sexualpartner und Kinder) emotional zu missbrauchen, um dadurch den eigenen Selbstwert auf Kosten anderer zu erhöhen.8
Varianten der NPS
Ein Aspekt der bisher beschriebenen klassischen (offenen, grandiosen) Variante kann auch eine innerlich permanent schwelende Wut sein, die sich schon bei geringem Anlass (vor allem bei Kritik oder subjektiv empfundener Kränkung) explosionsartig entladen kann.9 Es ist leicht nachvollziehbar, dass Betroffene große Schwierigkeiten haben, sich nachhaltig in einer sozial verträglichen Weise in ihr Umfeld zu integrieren. „In seiner negativen Form ist der Narzissmus die Ursache von Hass, Neid, Eifersucht, Kränkungen und Streit. Und in der bösartigen Form ist er die Ursache von Gewalt, Verbrechen und Krieg. Der negative Narzissmus ist eine echte Herausforderung in Partnerschaften und Freundschaften, in Ehen und Familien, im Berufsleben und in sonstigen zwischenmenschlichen Verbindungen. Er ist meist der Nährboden für unangenehme Auseinandersetzungen, unüberwindbare Konflikte, Feindschaften und Straftaten.“10
Alternativ hat sich die Form des verdeckten Narzissmus entwickelt, bei der Betroffene gelernt haben, „ihre Impulse zu großspurigem Auftreten zu unterdrücken und den Bewunderungstribut (engl. „feed“), auf den sie emotional angewiesen sind, auf stillere und mehr indirekte Weise einzufordern. Verdeckte Narzissten geben sich bescheiden, freundlich, großzügig und altruistisch, sind aber ebenfalls ganz und gar von dem Verlangen angetrieben, sich selbst stets ins bestmögliche Licht zu rücken. Viele verdeckte Narzissten haben eine ausgeprägte Opfermentalität und sind überzeugt, dass ihre (eingebildeten oder tatsächlich vorhandenen) Talente und Fähigkeiten unterschätzt und nicht genug gewürdigt werden. (…) Stärker als offene Narzissten neigen verdeckte Narzissten zur Manipulation, zum Einflößen von Verunsicherung und Schuldgefühlen, zu Victim blaming11, zu Heimlichkeiten und zur Lüge.“2
Die Beschreibungen machen deutlich, dass es dem krankhaften Narzissten im Kern darum geht, ein maßlos übersteigertes Selbstbild mit Mitteln der Macht und insbesondere auch gegen die Interessen und Bedürfnisse anderer zu verteidigen, was ihm womöglich erst durch die Blindheit für die Lebensumstände, Bedürfnisse und Emotionen der Interaktionspartner/innen ermöglicht wird. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen mit NPS besonders häufig in Führungspositionen zu finden sind12, womit sie sich (bewusst oder unbewusst) eine institutionelle Legitimation ihrer dominant-manipulativen Verhaltensmuster verschaffen.
Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass das Selbstwertgefühl des krankhaften Narzissten auf ein labiles und vulnerables Fundament (z. B. auf ein gestörtes Urvertrauen)13 gebaut ist, sonst wären die rigiden Akte der Selbstbehauptung und -überhöhung, die ja auch (oder gar vor allem) eine Schutz- und Verteidigungsfunktion erfüllen, nicht notwendig. Vor diesem Hintergrund kann sich eine NPS alternativ zum bisher beschriebenen offenen, grandiosen Form auch in einem instabilen, rasch wechselndem Selbstwertgefühl zeigen, „das im Extrem zwischen Grandiosität und schamvoller Zerknirschung pendeln kann.“2 Des Weiteren wird die nicht seltene Variante des verletzlichen Narzissmus beschrieben, in der sich Betroffene von starken Selbstzweifeln getrieben überempfindlich gegenüber Kritik zeigen, unerfüllte Erwartungen als persönlich Entwertung empfinden, bis hin zur Beeinträchtigung ihrer Selbstwirksamkeitserwartung (SWE)14 zu Neid und Scham neigen. „Die Scham schlägt, weil sie als Dauerzustand schwer auszuhalten ist, häufig in Aggression um, in der die Scham kurzzeitig vergessen und emotionaler Druck abgelassen wird, sodass verletzliche Narzissten oft in einem Teufelskreis aus Scham und Wut gefangen sind. Besonders aggressiv reagieren sie, wenn sie glauben, nicht zu bekommen, was sie verdienen.“2 In diesem Kontext wird in der Literatur die sogenannte Scham-Wut-Spirale beschrieben; gemeint ist damit, dass „Personen mit NPS in selbstwertbedrohenden Situationen primär ein erhöhtes Schamerleben zeigen und sekundär zur Abwehr der Scham mit starken negativen, nach außen gerichteten Emotionen“ (z. B. Wut) reagieren.15
Narzissmus – kein Randphänomen!
Angaben hinsichtlich der Prävalenz der NPS in der Bevölkerung schwanken stark und reichen von 0,4 % bis 5,7 %.8 Erschwert wird die Gewinnung valider Daten insbesondere dadurch, dass sich Betroffene nur sehr selten aus eigenem Antrieb in psychotherapeutische Behandlung begeben. Betont wird allerdings, dass Menschen mit NPS hochgradig suizidgefährdet sind: „Etwa jeder zehnte Mensch mit krankhaftem Narzissmus verübt Suizid“ heißt es unter Berufung auf Prof. Sabine Herpertz von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).16 Die Erklärung dafür ist einleuchtend: „Da er im Grunde ein schwacher und verletzlicher Mensch ist, kann er ohne die permanente Bestätigung von außen leicht die Lebensfreude verlieren und in einen Zustand der Verzweiflung und Depression geraten. Außerdem steckt in jedem Narzissten ein erhöhtes Aggressionspotenzial, dass sich auch gegen ihn selbst richten kann. Der Narzisst kennt eben nur Extreme: Entweder er ist der Allergrößte und wird von allen bejubelt und bewundert oder er glaubt, es nicht verdient zu haben, zu leben.“17
Im Rahmen meiner Recherchen ist mir aufgefallen, dass das Thema NPS bzw. Narzissmus trotz einer eher geringen epidemiologischen Bedeutung und eher randständigen Erwähnung in der ICD-10 (in der ICD-11 taucht das Krankheitsbild im übrigen überhaupt nicht mehr explizit auf!18) aktuell eine recht große gesellschaftliche Relevanz hat. Dies zeigt sich beispielsweise an der Vielzahl der wirklich substanziellen einschlägigen Internetseiten und allein über 200 Treffern im Online-Buchhandel mit dem Wort Narzissmus im Titel, wobei eines der bekanntesten Bücher zur Thematik, nämlich Die Masken der Niedertracht von Marie-France Hirigoyen, seit vergangenem Jahr bereits in der 21. Auflage herausgegeben wird.19 Die Autoren Jean M. Twenge und W. Keith Campbell machen die Bedeutsamkeit des Phänomens noch deutlicher, sie sprechen (bereits 2010!) von einer „Narcissism Epidemic“.
Linktipp: Sven Grüttefien bietet auf seiner Seite umgang-mit-narzissten.de vielfältige, gut aufbereitete Informationen, die sich vor allem an die Opfer von Narzisst(inn)en richten. Die Zielrichtung seines umfangreichen Informationsfundus beschreibt er mit den Worten Erkennen Befreien Wachsen.
Abbildungsnachweis
- John William Waterhouse: Echo and Narcissus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Echo_and_Narcissus_-_John_William_Waterhouse.jpg, gemeinfrei
- Tabelle Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung: Aline Vater, Stefan Roepke, Kathrin Ritter und Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Forschung, Diagnose, Psychotherapie, November 2013, S. 601, in: Psychotherapeut Nr. 58, S. 599-615, online unter https://www.researchgate.net/publication/258728606_Narzisstische_Personlichkeitsstorung_Forschung_Diagnose_Psychotherapie
- Buchcover The Narcissm Epidemic © Atria Publishing Group
- vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Narziss [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Narzisstische_Persönlichkeitsstörung [↩][↩][↩][↩]
- DSM-5 ist die Abkürzung für die 5. Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM). Es handelt sich um ein Klassifikationssystem für psychische Störungen, das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird. [↩]
- https://www.news.at/a/so-streiten-narzissten-11304505 [↩]
- ebd., mit Verweis auf Annie Reich: Pathologic forms of self-esteem regulation. In: Psychoanalytic Study of the Child. Band 18, 1960, S. 218–238 [↩]
- https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/narzissmus/formen-narzisstischer-zuege/, Aufruf 03.03.2022 [↩]
- ebd., mit Verweis auf Rainer Sachse: Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die psychologische Psychotherapie, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Göttingen 2019 [↩]
- vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Narzisstische_Persönlichkeitsstörung [↩][↩]
- ebd. [↩]
- https://umgang-mit-narzissten.de/definition-narzissmus/ [↩]
- deutsch: Täter-Opfer-Umkehr und Opferbeschuldigung/Opferschelte – Beschreibung für ein Vorgehen, das die Schuld für einen Übergriff beim Opfer selbst sucht. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Victim_blaming) [↩]
- vgl. z. B. https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/narzisstischer-chef-warum-fuehrungskraefte-sich-oft-selbst-ueberschaetzen-r9/, hier kommt Dr. Astrid Schütz, Professorin für Persönlichkeitspsychologie, Bamberg, zu Wort. [↩]
- Vermutungen zu den Ursachen Narzisstischer Persönlichkeitsstörungen zielen vor allem in Richtung von Störungen der frühkindlichen Entwicklung. Einschlägige Erklärungsansätze stellen auf die Beibehaltung des ursprünglichen kindlichen Narzissmus ab, beispielsweise bedingt durch die mangelnde Entwicklung eines realistischen Selbstbildes aufgrund gesunder Frustrationserfahrungen (Heinz Kohut 1977), lieblose, sehr strenge oder gar feindselige Eltern, mit denen sich das Kind nicht identifizieren kann (Otto Kernberg 1975), Projektion ehrgeiziger elterlicher Bestrebungen auf das Kind (Arnold Rothstein 1979) oder Eltern, die ihr Kind daran gewöhnen, von anderen Ergebenheit zu erwarten (Theodore Millon 1981). (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Narzisstische_Persönlichkeitsstörung [↩]
- SWE bezeichnet das Vertrauen einer Person, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen auch in Extremsituationen erfolgreich selbst ausführen zu können. (https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstwirksamkeitserwartung) [↩]
- vgl. Vater et al. (2013), S. 602 [↩]
- https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/ratgeber-archiv/artikel/narzisstische-persoenlichkeitsstoerung-oft-kombiniert-mit-weiteren-stoerungsbildern [↩]
- https://umgang-mit-narzissten.de/suizidgefaehrdung-des-narzissten-2/ [↩]
- vgl. https://www.rnd.de/liebe-und-partnerschaft/narzissmus-warum-wir-den-begriff-nicht-mehr-brauchen.html mit Verweis auf https://icd.who.int/ [↩]
- Marie-France Hirigoyen: Die Masken der Niedertracht. Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann, 21. Auflage, München 2021, Erstauflage 2002 [↩]