Lieber Wolfgang Niedecken,
in Fuhl am Strand schreibst und singst Du:
Noh langer Zick fällt mir sujar Mieh Vorbild widder en: "Hey, Vorbild, dank dir schön, Ich jläuv, ich kriej et langsam selver hin."1
Ja, Du warst mein Vorbild, das Vorbild meiner Jugend. Seit ich euch im Januar 1984 mit zarten 14 Jahren bei meinem ersten Livekonzert dieses Lebens im Gedrängel der ersten Reihe des Bürgerhaus Anröchte gesehen, gehört und gefeiert hatte, war ich fasziniert – vor allem von Deinen Texten, die ich dank der liebevoll gestalteten Inlays euerer LPs komplett übersetzen und bis heute auswendig mitsingen kann. Und ich möchte sagen, dass Du auf meine Entwicklung einen nicht unerheblichen Einfluss hattest, wofür ich Dir sehr dankbar bin.
Nicht nur der kölsche Dialekt erschloss sich mir durch das akribische Textstudium, sondern auch Deine wundervoll authentische Art, sich etwas von der Seele zu schreiben – und darüber hinaus und vor allem eine politische Haltung, die ich in ihrer kritischen, mündigen und kämpferischen Art wahrlich vorbildlich empfand und verinnerlichte. In der zwölften Klasse schrieb ich beispielsweise im Religionsunterricht eine Hausaufgabe zum Thema Glauben und wagte es, ermutigt durch Wenn et Bedde sich lohne däät, meine sehr kritische Haltung zu outen, was, welch ein Glücksfall, von meinem Lehrer mit Empathie und Wertschätzung honoriert wurde. Und schließlich hast Du mir auch noch Bob Dylan nähergebracht. Danke.
Im August 2021 sah ich Dich wieder, auf „Dylan-Reise“ in der Rietberger Volksbank-Arena. Mein Herz ging auf, als ich Deine alten Dylan-Covers wie Sinnflut, Wie ’ne Stein und Schluss, Aus, Okay live wiederhören durfte. Ich fühlte mich auf wohlige Weise in einen sehr (im positiven Sinne) prägsamen Aspekt meiner Jugend in den 1980er Jahren zurückversetzt.
Doch dann passierte es: Am Ende des Programms, als eigentlich alles gut und gelaufen war, hast Du Dich vehement und nachdrücklich an uns alle gewandt, jeder möge sich doch bitte impfen lassen – zu einem Zeitpunkt, an dem längst klar war, dass diese Impfung eine durchaus kritische Betrachtung verdient. In meinem ersten Entsetzen nahm ich immerhin wahr, dass die Reaktion des Publikums auf deinen Appell deutlich geteilt ausfiel. Dennoch: Mit einem mal war das schöne Gefühl dahin, so als hätte jemand mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Schade. Befremdlich, wenn man sein Vorbild plötzlich nicht mehr wiedererkennt. Wenig später, im Dezember 2021, äußertest Du dann auch noch: „Hätten wir mal die ganze Zeit auf Karl gehört“.2 Und im März 2022: „… es wird höchste Zeit, dass die Impfpflicht kommt. Es ist asozial, sich nicht impfen zu lassen.“3
Ich war und bin entsetzt und erschüttert zugleich. Wolfgang, „wat ess bloß passiert, …?“4 Wo bleiben die einst so vorbildliche kritische, eigensinnige Haltung und der differenzierte Blick des jungen Revoluzzers? Wie kann es sein, dass Du nicht einmal mehr die freie Entscheidung jedes einzelnen respektierst, sich impfen zu lassen oder nicht? Oder hast Du Deine Aussagen vielleicht sogar als mutige Positionierung empfunden?
Ich kann gut verstehen, dass Du nach dem überstandenen Schlaganfall anfälliger für gesundheitliche Sorgen bist. Und ich kann auch verstehen, wenn man die staatlichen Maßnahmen notgedrungen akzeptierte, um überhaupt noch als Künstler öffentlich auftreten zu dürfen und somit den Rest einer Existenz zu sichern. Gerade die Branche, in der Du unterwegs bist, hat massiv unter der Corona-Politik gelitten. Aber ein Impfappell, das ist etwas ganz anderes, denn dabei geht es um die Freiheit der Meinung, Eigenverantwortung für die Gesundheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Alles Werte, die doch dem Kern Deiner eigenen Grundhaltung entsprechen!
Im Juli 2022 traten beim Lippstädter Rathausplatz-Festival MAM auf, eine BAP-Coverband, die einen wirklich guten Job macht und Spaß an ihrer Arbeit hat. Sie spielten auch Zehnter Juni von eurem Album Von drinne noh drusse (1982). Darin heißt es:
Ihr Noodelstriefe-Schreibtischtäter, hührt zo, Ejal, wo ihr üch versteckt: Die Zoot stirv uss, die marionettengleich ihr Als Minenhunde vüürscheckt. Ühr Schachfijure hann et Denke jeliert Un springen einfach vum Brett, Bess zom Kadaver weed jetz ni’ mieh pariert, Probiert doch selvs, wie Dreck schmeck!5
Schon vorher hatte ich genau diesen Song zu meinem ultimativen Coronamaßnahmen-Protestlied auserkoren. So war der MAM-Auftritt ein schöner Reminder: Genau diese kritische, sich nicht der systemischen Panikmache unterwerfende Haltung hätte ich mir gewünscht – auch und gerade von Dir, der Du diese Zeilen einst geschrieben hast, und dass Du sie nach wie vor mit Überzeugung lebst, getreu deinem Motto „Arsch huh – Zäng ussenander„.
Und dann noch Ne schöne Jrooß (vom Album Affjetaut! aus dem Jahr 1980) – „jawoll ja!“ Treffender kann man die Situation der deutlichen Mehrheit des Volkes im Jahr 2021 kaum beschreiben, und Du hast das schon 1980 gesehen, geradezu prophetisch6:
Die ärm Säu hängen drin en Situatione, die nur erklärbar sin durch Hirnamputatione, die hann se noh und noh em Gleichschritt Richtung Schwachsinn jescheckt. Oh, leeven Orwell, Vierunachtzich ess noh, t'sinn sind mittlerweile nur noch vier läppsche Johr. Et läuf su ähnlich aff, nur unauffällig un vill raffinierter jemaat. Dä Trick, dä funktioniert janz zügig un reibungslos. Etappenweise Entmündigung klappt famos. Freiwillig enjemaat un stekum zum Verblöden gebraat.7
Ne schöne, janz herzliche Jrooß jedenfalls an Dich, mein lieber Mâitre, und ja, ich bekomme es (nicht nur notgedrungen) langsam selber hin. Aber ich bin zutiefst dankbar, dass ich in meiner Jugend ein Vorbild wie Dich haben durfte. Du hast mich über Kreativität und Ausdruck hinaus Wachsamkeit, Kritik, Pluralismus, Freiheit und Widerstand gelehrt, und niemand hätte es besser tun können. Und unter anderem diese Werte haben mir die Kraft und den Mut geschenkt, nicht mit in den Sog der politischen und medialen Corona-Panikmache zu geraten. Daher noch einmal:
Von Herzen danke, lieber Wolfgang!
Namasté!
Thomas
Meine Erfahrungen und Erkenntnisse der Corona-Zeit habe ich in meinem Corona-Dossier verarbeitet.
Abbildungsnachweis
- BAP-Ticket Bürgerhaus Anröchte, 9.1.1984: privat © Thomas Hönemann
- Porträt Wolfgang Niedecken (2012) © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
- https://www.bap.de/songtext/fuhl-am-strand/. © für alle Texte: Wolfgang Niedecken/Universal Music GmbH. Auf den verlinkten Seiten findet sich jeweils auch die Übersetzung ins Hochdeutsche. [↩]
- https://www.welt.de/politik/deutschland/video235513596/Lauterbach-Freund-Wolfgang-Niedecken-BAP-Haetten-wir-mal-die-ganze-Zeit-auf-Karl-gehoert.html [↩]
- Jens Klöckner und Martin Wernicke: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“. Das Corona-Unrecht und seine *Täter, München 42022, S. 106, zit. n. Rhein-Neckar-Zeitung, 13. März 2022 (Update), https://www.rnz.de/kultur/magazin_artikel,-rnz-interveiw-was-wolfgang-niedecken-von-wladimier-putin-haelt-_arid,839014.html [↩]
- Zitat aus Wellenreiter, https://www.bap.de/songtext/wellenreiter/ [↩]
- https://www.bap.de/songtext/zehnter-juni/ [↩]
- Interessant ist allerdings, dass dieser Vers aus der 1999er-Version des Liedes bereits verschwunden ist, vielleicht weil Du dachtest, dass sich schon damals keiner mehr an George Orwell und seine Horrorvision des maßlos übergriffigen Staates erinnerte, weil sie längst wahr geworden war? [↩]
- https://www.bap.de/songtext/ne-schoene-jrooss-1980/ [↩]